Der Europaer im Kreml

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Ein MUT-Interview mit dem Russland-Experten Alexander Rahr Das Gesprach fuhrte Hermann Bohle

Alexander Rahr (48) empfiehlt die in europaischem Interesse zielorientierte Versachlichung der Ru?landdebatte.Diesen riesigen Nachbarn, ohne dessen Stabilisierung und langfristige DemokratisierungEuropa niemals Frieden findet, darf politische Isolierung nicht in Chinas Arme treiben. Gerade das, so Alexander Rahr, will Prasident Putin verhindern. Putin bemuhe sich, die „Eiszeit zwischen Moskau und der EU“ (Uberschrift in „Die Welt“ vom 15. Mai 2007) nicht Realitat werden zu lassen. Mit seiner Wege weisenden Rolle in Ru?lands Politik rechnet Rahr als Mitglied des „Petersburger Dialogs“ auch nach 2008, wenn Putin aus dem Prasidentenamt scheidet. Mit dem „Programmdirektor Ru?land/Eurasien“ (Deutsche Gesellschaft fur Auswartige Politik) sprach in Berlin Hermann Bohle.

MUT: Prasident Putin, er tritt 2008 ab, nannte die stabile, starke EU – anla?lich des Jubilaums der Romischen Einigungsvertrage – ein „Interesse Ru?lands“. Haben Europa und der Westen die historische Chance des neuen Ru?lands vertan, zumindest unzureichend genutzt?

Rahr: Ich denke ja. Niemand spricht heute von einem „Gemeinsamen Europaischen Haus“ mit Ru?land. Die Leidenschaft, mit der wir die Wiedervereinigung West- und Mittelosteuropas in den neunziger Jahren betrieben hatten, ist uns in bezug auf Ru?land abhanden gekommen. Vielleicht fuhlen wir instinktiv, da? die Ostslawen ein anderes Wertesystem haben und wir keine demokratische Wertegemeinschaft zusammen errichten konnen. Ru?lands Maxime erschrecken uns. Vor zehn Jahren ging Ru?land am Bettelstab, heute furchten wir den neuen Energieriesen.

MUT: Westliche Urteile uber Putins Ru?land variieren. Angelsachsen sehen immer weniger Unterschiede zur Sowjetunion. Die erz- liberale „Neue Zurcher Zeitung“ differenziert: „Starker Mann schafft neue Freiheiten, Ru?land zwischen Ambition und Korruption, Aufbruch und Erstarrung“, doch Putins gelenkte Demokratie liege „nahe am Optimum“ des Erhoffbaren.

Rahr: Ru?land unterscheidet sich zentral von der Sowjetunion. Erstens ist es kapitalistisch – kapitalistischer sogar als Westeuropa. Zweitens verfolgt Ru?land keinerlei Welteroberungsplane. Wer erweitert denn die NATO an Ru?lands Grenzen, wer stellt vor der russischen Hausture einen Raketenabwehrschild auf, und wer unterstutzt die Absetzung korrupter Regime in der Ukraine, Georgien, Kirgisien? Andererseits: Ware die NATO nicht nach 2001 nach Afghanistan gegangen, hatten die Islamisten die Sudgrenzen Ru?lands angegriffen. In der Weltpolitik ist Ru?land, wenn man wirklich objektiv sein will, mehr in der Defensive als in der Offensive.

MUT: Das kann sich andern ...

Rahr: … wir mussen aus der heutigen Situation die richtigen Schlusse ziehen fur die Gegenwart und fur die nahe Zukunft. Wir sollten nicht ein neues Bedrohungsszenario aus Ru?land an die Wand malen. Ru?land ist nicht einmal in der Lage, die ehemaligen Sowjetrepubliken zuruckzuintegrieren. Ja, es gibt russische Versuche, GUS-Staaten uber die Energiepolitik wieder naher an sich zu bringen. Doch Ru?land ist zu schwach, sich nicht anerkannte Autonomien wie Transnistrien, Abchasien oder Sud-Ossetien einzuverleiben, die ubrigens sogar selbst eine Wiedervereinigung mit Ru?land fordern.

MUT: In der Westpresse geistern Zahlen uber die Vervielfachung der russischen Rustungsausgaben. Droht ein neues Wettrusten?

Rahr: Der Vizepremier Ru?lands und Putins wahrscheinlicher Nachfolger, Sergei Iwanow, sagte kurzlich der „Financial Times“, Moskau wurde nicht den gleichen Fehler begehen wie einst die Sowjetunion und sich vom Westen totrusten lassen. Im Grunde rustet Ru?land nicht selbst auf, sondern steigert seine Rustungsindustrie, um modernere Waffen nach Asien und in die arabischen Lander zu verkaufen und dabei Geld zu verdienen. Das heutige Ru?land denkt nicht ideologisch, sondern kapitalistisch.

MUT: Gorbatschow wollte nur das Sowjetsystem demokratisieren, Jelzin ersetzte es ab 1991 durch Freiheit und Markt. Deren Akteure – auch westliche – mi?brauchten es schamlos. Mit den Konsequenzen in Form von Chaos und Massenarbeitslosigkeit ringt Putin nun um einen stabilen Staat, um Wohlstand als Mutterboden der Demokratie. Dazu setzt er auch schweres „Raum-gerat“ ein. Mussen wir dafur Verstandnis haben?

Rahr: Das allerwichtigste ist die Meinung des Volkes. Ihm und nicht dem Westen ist Putin rechenschaftspflichtig. 80 Prozent der Russen sind mit Putins Politik hochzufrieden. Das Land ist stabil, die Menschen leben besser denn je, Ru?land wird im Ausland wieder geachtet. Viele Russen furchten jedoch, da? mehr Demokratie in Ru?land zu Anarchie und Chaos fuhrt. Millionen von Russen verbringen ihren Urlaub auf ihren Luxusdatschas im Westen und genie?en den westlichen Lebensstil. Fur das eigene Land lehnen sie aber das liberale Demokratiemodell ab.

MUT: Darf es denn, entsprechend unserem liberalen Selbstverstandnis, nur „unser“ Ru?land sein?

Rahr: Seit 15 Jahren wollen wir, da? Ru?land unser westlich-liberales System aufnimmt wie zum Beispiel Polen, Tschechien oder die baltischen Staaten. Uber diesen Horizont schauen wir nicht hinaus und entwickeln keine Alternativen ...

MUT: ... in deren Namen es sich das russische Volk gar erlauben „durfte“, eigene Wege zur Demokratie zu gehen, wie zum Beispiel England, Frankreich oder Amerika dermaleinst ...

Rahr: ... genau das. Wir sagen: Wenn es Ru?land nicht macht wie wir, dann gehort es nicht zu Europa und liegt uns ebenso fern wie China. Hier liegt der Denkfehler in der ganzen westeuropaischen Ru?landdebatte. Wir vergessen, da? es fast uberall immer Alternativen gibt und wollen nicht akzeptieren, da? Ru?land seinen eigenstandigen Weg zu gehen versucht. Immer ist Ru?land nach Phasen der Ankoppelung an den Westen auch andere Wege gegangen – keinen antieuropaischen, aber seinen eigenen.

MUT: Zum 50. Jahrestag der EU-Vertrage proklamierte Putin – wie gesagt – ein weiteres Mal die Zugehorigkeit der Russen zur europaischen Zivilisation.

Rahr: Seit seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag in Berlin 2001 – mit standigen Offerten bei fast jedem Gipfeltreffen mit der EU – appelliert Putin, Ru?land in Europa zu akzeptieren. Ru?land habe viel einzubringen. Aus meinen haufigen Gesprachen mit Putin meine ich diesen Mann so zu verstehen, da? er im Grunde genommen ein Bekenner der europaischen Zivilisation ist; nur vertraut er nicht auf eine Demokratisierung von unten.

MUT: Sie haben Ihr Buch uber Putin betitelt: „Der Deutsche im Kreml“. Lie?e sich auch sagen: Der „Europaer“ im Kreml?

Rahr: Ebenso. Deutschland hat er sich moglicherweise ausgesucht, weil er unser Land kannte, wohl eine besondere Sympathie fur die Deutschen empfand, fur das Land, das eine Art Anwaltsrolle fur Ru?land in Europa ubernahme. Er hat auf Deutschland gesetzt. Putin ist ein Europaer, der sieht, da? ein Bundnis mit China sein Ru?land fur lange Zeit von Europa abschneiden wurde. Ru?land wurde in Asien eine noch mindere Rolle spielen als heute in Europa. So kampft er um Ru?lands Einzug auf dem europaischen Kontinent, auch wenn Turen nach Europa verschlossen bleiben, solange Ru?land das liberale westliche Wertesystem negiert. Man mu? die Russen verstehen: Sie wollen am Aufbau einer kunftigen europaischen Architektur als Europaer partizipieren. Wir sagen ihnen aber hochnasig: Das Europa des 21. Jahrhunderts wird von der EU und NATO errichtet und auf westeuropaischen Werten basieren. Ihr Russen seid drau?en.

MUT: Hinter den heute noch 148 Millionen Russen leben auf der gemeinsamen Festlandsmasse uber 1,3 Milliarden Chinesen. Mit 7000 Kilometer langen, schwer kontrollierbaren Grenzen dazwischen. Ohne China Boses zu unterstellen: Sucht Putin die Europa-Bande sogar sicherheitspolitisch – wegen des gemeinsamen Interesses am eurasischen Gleichgewicht?

Rahr: Wenn der Westen Ru?land als strategischen Interessenspartner starker integrieren wurde, hatte Putin niemals diesen heutigen taktischen Bund mit China geschlossen. Aber gegenwartig lockt China Ru?land immer weiter nach Asien. Beijing mochte nicht, da? Ru?land der NATO beitritt und sich das Militarbundnis Chinas Grenze nahert. China lockt Ru?land auch in eine strategische Energieallianz und will mit Ru?land in Zentralasien ein neues starkes Eurasien errichten.

MUT: Wir sind bei der Geopolitik ...

Rahr: ... was sich seit vier Jahren vor unseren Augen abspielt, ist – geopolitisch ausgedruckt – der Kampf um die kunftige Architektur Europas. Wird Europa ein reiner Club west- und mittel-osteuropaischer Staaten bleiben? Klar ausgerichtet auf eine transatlantische Integration? Woraufhin dann Europa fruher oder spater zu einem Ostamerika wird? So da? der europaische Kontinent aus der Geschichte verschwindet? Wahrend Ru?land oder die Ukraine die westlichen Teile eines eurasischen Blocks werden? Die andere Alternative besteht darin, diesen – unseren – historischen Kontinent zu retten. Die Erfahrung aus dem 17., 18. und 19. Jahrhundert zeigt, da? Osteuropa dem Kontinent immer wieder Positives brachte, ihn verjungt hat. In der Geschichte beschutzte es uns auch gegen Gefahren aus dem Osten. Diese Rolle, die die osteuropaischen Volker fur Europa gespielt haben, hat man in der westlichen Literatur und Geschichtsphilosophie nie akzeptiert. Immer wieder rei?t man kunstliche Grenzen auf. Wir haben mit Putin noch eine Chance. Da? er heute gegen die Raketenabwehr und den KSE-Vertrag opponiert, ist keine Aggression gegen den

Westen, sondern der letzte Schrei nach Integration Ru?lands in einen gemeinsamen europaischen Sicherheitsclub.

MUT: Viel Zeit bleibt nicht. In neun Monaten verbietet Ru?lands Verfassung Putin eine dritte Amtszeit.

Rahr: Putin bleibt in der Politik –, aber nicht als Prasident, denn er wird die Verfassung nicht brechen. Wurde er die Verfassung verletzen, konnte das kunftig auch jeder andere tun. Ich glaube, er denkt daruber nach, wie er sich in der Zukunft politisch positionieren soll.

MUT: Haben Sie eine Idee? Er ist erst 55 Jahre.

Rahr: Wie ich hore, wird daruber nachgedacht. Er konnte erstens Vorsitzender einer der beiden Kremlparteien werden, wahrscheinlich von „Einheitliches Ru?land“. So konnte er standig auf die Politik einwirken, und zwar aus einer Position heraus, die unabhangiger ware ...

MUT: ... daraus konnten in der Zukunft einmal Ansatze zur parlamentarischen Demokratie werden ...

Rahr: ... vor allem eines Zweiparteiensystems. Eine zweite Moglichkeit ware, da? Putin Vorsitzender des Verfassungsgerichts wird. Putin ist Jurist. Er konnte sich dann einer sehr wichtigen, auch historischen Aufgabe verschreiben: mit seiner Autoritat in Ru?land die Dritte Gewalt zu starken...

MUT: ... oder, werden die Skeptiker einwenden, die Dritte Gewalt dort de facto gar nicht stattfinden zu lassen ...

Rahr: … im Westen halt man ihn fur einen Autokraten. In Ru?land hat er aber viel erreicht: In seinen bisher sieben Regierungsjahren hat das Recht durchaus Einkehr gefunden. Die Menschen konnen nun mit Eigentum schon ganz anders umgehen. Sie haben Sicherheit fur ihre Zukunft: fur sich und ihre Kinder. Das war in der russischen Geschichte so niemals der Fall gewesen. Heute sehen die Menschen in Putin den Garanten dafur. Eine dritte Moglichkeit ware, fur Putin das Amt eines Staatsratsvorsitzenden zu schaffen. Das ist moglich, ohne die Verfassung zu brechen. Wie der Nationale Sicherheitsrat, den die Verfassung gleichfalls nicht vorsieht, hatte auch der Staatsrat keine exekutiven Funktionen, dann aber dank Putin eine sehr stark beratende und moralisch-politische Rolle.

MUT: Putin konnte den Versuch, eine russische Demokratie aufzubauen, weiterhin aktiv nicht nur begleiten, sondern tonangebend mitgestalten?

Rahr: Es geht ihm, glaube ich, nicht darum, das Land in die Demokratie zu fuhren. Vielmehr befurchtet er, da? zu viel Freiheit in Ru?land zu Anarchie, Staatszerfall und neuen Machtkampfen fuhrt. So bedauerlich das ist – aber da ist die jungste russische Geschichte voll von diesen negativen Episoden. Ich denke, auch mitteleuropaische Lander hatten den Weg zur Demokratie nicht so leicht einschlagen konnen, waren sie nicht in europaische Strukturen eingebunden gewesen. Aber hier sind wir wieder bei den falschen ubertriebenen Erwartungen gegenuber Putins Ru?land …

MUT: … braucht Westeuropa ein stabiles und also starkes Ru?land?

Rahr: In Ru?land stellt sich die Frage krasser als anderswo: Freiheit oder Sicherheit. Bei vielen im Westen wie unter vielen russischen Liberalen gilt das Denken, zunachst einmal mu?ten die Menschen auf dem russischen Territorium alle frei werden. Freiheit uber alles, auch wenn damit die Russische Foderation zerfiele in eine Masse konkurrierender Ministaaten. Tatsachlich wurde ein Zerfall Ru?lands fur die ganze Welt verheerend sein. Dabei sind die Atomwaffen oder die Islamisierung von Nachfolge-Republiken der Sowjetunion nur zwei Stichworte. Da gebietet sich viel Verstandnis fur Putins Politik. Ubrigens ist Ru?land nicht so totalitar, wie manche denken. In diesem Land finden standig regionale Wahlen statt, bei denen gar nicht einmal die Kremlparteien dominieren. Auch die liberalen Krafte haben durchaus schon ihre Nischen gefunden. Was der Westen Putin absolut nicht dankt, ist die Tatsache, da? er die weitaus gefahrlicheren faschistischen und nationalistischen Parteien in Ru?land neutralisiert hat.

MUT: Ist die russische Demokratie also doch unterwegs?

Rahr: Auf Umwegen. In England, Frankreich oder Deutschland wurde die Demokratie auch nicht vom Volk, sondern von den Eliten – dem Burgertum – erkampft. Wir wollen aber Ru?lands Transformation mit der erfolgreichen Uberstulpung der Demokratie uber die mittelosteuropaischen Lander in den neunziger Jahren vergleichen. Diese Lander hatten viel Gluck, sie wurden sofort in Westeuropa integriert. Ru?land verharrte nach dem Zusammenbruch der UdSSR in einer schwierigen Identitatssuche. Die neuen Eliten – oder das Burgertum – mu?ten sich erst herausbilden. Warten wir doch ab, wie die nachste Generation von Russen, die heute auf den westlichen Eliteschulen studiert oder westliche Konzerne aufkauft, Ru?land in zehn Jahren fuhren wird.

MUT: Ihr Ausblick, bitte?

Rahr: Als in den letzten sieben Jahren Putin die Krafte des Landes bundelte, um Ru?land wieder zur Gro?machtrolle zu fuhren, begann mancherorts in vielen westlichen Kopfen wieder der Kalte Krieg. Ru?land ist bisher nicht willkommen, schon weil es in der Tat unberechenbar ist. Im Westen will noch keiner wahrhaben, da? wir uns schneller als erwartet von der unipolaren Welt verabschieden mussen.

MUT: ... nicht mehr made in USA ...

Rahr: ... ja – und welche Motoren wird sie haben? Wenn wir nicht aufpassen, mussen wir Europaer uns spater gro?e Vorwurfe machen, weil wir es nicht verstanden haben, rechtzeitig ein Bundnis mit Ru?land zu schlie?en. Das Bundnis richtet sich doch nicht gegen Amerika. Eine gewisse Emanzipation von Amerika ist doch naturlich. Was verhindert werden mu?, ist eine bipolare Welt mit Ru?land an der Seite Chinas und Indiens gegen uns. Das 22. Jahrhundert wird das asiatisch-pazifische. Ein Ru?land, das sich dann von uns abgewendet hat, ware eine Katastrophe.

MUT: Herr Rahr, haben Sie Dank fur dieses Gesprach.

MUT – ежемесячный журнал, основанный в 1965 году. Ныне выходит в издательстве "Азендорф" (земля Нижняя Саксония) тиражом в 10 тысяч экземпляров. За годы существования журнала суммарный его тираж превысил цифру в 7 миллионов экземпляров. При всем разнообразии германского медиа-ландшафта, лишь немногие культурно-политические издания могут похвастаться столь длительным участием в духовной жизни общества на различных этапах его развития. С 1968 года журналом и издательством руководит известный публицист Бернхард-Кристиан Винцек, позиционирующий свое издание как "культурный, политический и исторический форум".

№6(12), 2007

№6(12), 2007